THE HUMAN BEING
‘A HUMAN BEING’ AMONG OTHERS
Alfred Adler experiences illness and exclusion as formative experiences. He seeks relief not in hostility or social withdrawal, but in a movement towards solidarity and cooperation within the community. His belief in the capacity for development enables him to gain a deeper understanding of himself and others.
Während wir uns Gedanken über staatliche Unterstützungsmaßnahmen, den Wahlkampf und andere Themen machen, sollten wir nicht vergessen, dass eines unserer Hauptprobleme die Bildung unserer Kinder ist. Diese Kinder werden schon bald die Welt regieren. Wie gut sie das tun werden, hängt davon ab, wie gut ihre Köpfe in den Schulen gefördert werden.
Alfred Adler, 15. Juli 1936, The Minneapolis Star, S. 6
The will to live postpones death
Adler was born on 7 February 1870 in Rudolfsheim, the second child after his brother Sigmund. He was a popular playmate and later described himself as a ‘street urchin’. Adler’s childhood was marked early on by respiratory illnesses, combined with feelings of inferiority and fear of death. The early loss of his younger brother also left a deep impression on him.
Social medicine –
a look at the big picture
During his studies, Adler was a member of socialist student associations. As a practising physician, he experienced the social injustices faced by his patients first-hand and in 1898 published the first socio-medical publication on the precarious conditions in the tailoring trade.
Loving and living family life
Adler falls passionately in love with the feminist communist Raissa Timofejewna Epstein. The two marry on 23 December 1897 and have four children. Cultural differences and traditional gender roles lead to recurring conflicts.
From Psychoanalysis
to Individual Psychology
According to individual psychology, encouraging parenting is the most effective way to prevent neuroses. Instead of physical punishment, affection, education and humour promote the ability to encourage oneself.
Viennese speaker in exile
With the rise of Austrofascism, the Adler family – without their daughter Valentine – leaves Vienna for good and emigrates to the United States, where both Individual Psychology and Adler himself gain recognition as a lecturer and teacher.
Community work creates
a monument
While on a lecture tour in Aberdeen, Adler suddenly dies of a heart attack on 28 May 1937. In 2011, a dedicated study group brings the long-lost urn to Vienna, where it is laid to rest in an honorary grave at the Zentralfriedhof.
Family tree of Alfred Adler
Curriculum Vitae of Alfred Adler
„Wer war der Mensch Alfred Adler?“ – Diese Frage stellt sich zu Recht. Denn Adler hinterließ nicht viele Briefe, Tagebücher oder Memoiren, die einen tiefen Einblick in seine Persönlichkeit geben könnten. Erst die gesammelten Zeitzeugnisse aus seinem sozialen Umfeld zeichnen ein umfassenderes Bild: Adler war ein Freund, ein Mann der Praxis – und auch ein Kind seiner Zeit. Gerade das ermutigt uns, auch dorthin zu schauen, wo er seinen eigenen Idealen nicht immer gerecht wurde.
Adlers frühe Prägungen
Alfred Adler wächst in einer Zeit tiefgreifender sozialer Umbrüche auf. Die Industrialisierung verändert die Donaumonarchie grundlegend und verschärft soziale Ungleichheiten. Trotz wirtschaftlicher Modernisierung bleibt die Gesellschaft patriarchal geprägt. Juden und Jüdinnen erfahren zunächst rechtliche Gleichstellung, doch der aufkommende Antisemitismus etabliert sich zunehmend als gesellschaftlich akzeptierte Ideologie.
Adlers Eltern, weder besonders religiös noch gebildet, kämpfen um den Erhalt ihres Geschäfts. Am 7. Februar 1870 wird Alfred Adler in Rudolfsheim als zweites von sieben Kindern geboren – nach seinem Bruder Sigmund. Ausgerechnet Sigmund: ein Name, der ihm später in Beziehung und Rivalität mit Freud erneut begegnen wird. Da das Verhältnis zur Mutter konfliktbeladen ist, wendet Adler sich liebevoll dem Vater zu.
Früh ist Adler mit Gefühlen von Minderwertigkeit konfrontiert: Als Kind leidet er an Rachitis, schweren Stimmritzenkrämpfen und einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung. Als sein Arzt ihn bereits aufgegeben hat, fasst der junge Adler einen Entschluss: Er will den Tod besiegen – und gewinnt seine Lebendigkeit zurück. Schon früh reift in ihm der Wunsch, Arzt zu werden. Der Tod seines jüngeren Bruders Rudolf infolge einer Diphtherie-Erkrankung dürfte Adlers Entscheidung für den Arztberuf zusätzlich geprägt haben.
Trotz dieser ernsten Lebensumstände bewahrt sich Adler eine lebhafte Neugier. Selbst bezeichnet er sich als einen „Gassenjungen“ – als solcher ist er ein beliebter Spielgefährte mit großem Entdeckergeist. Später am Hernalser Gymnasium zeigt sich, dass schulische Leistungen bzw. Noten – insbesondere in Mathematik – für ihn nicht Priorität haben. Viel wichtiger ist ihm das soziale Miteinander und der Austausch mit seinen Mitmenschen.
Politisierung, Medizinstudium und Berufsbeginn
Interessanter als sein Medizinstudium, das Adler 1895 als erster Akademiker seiner Familie nur mit dem nötigsten Aufwand abschließt, sind für ihn die Diskussionen in politischen Zirkeln und sozialistischen Studierendenverbänden. Das geistige Leben spielt sich vor allem in den verrauchten Wiener Kaffeehäusern wie dem Café Siller oder dem Café Central ab. Die Diskussion marxistischer Schriften und die sozialpolitischen Aktivitäten von Viktor Adler inspirieren ihn zu der Vorstellung einer gleichberechtigten Gesellschaft.
Es sind Jahre, in denen Alfred Adler seinen Weg als junger Arzt sucht. Gegen Ende seines Medizinstudiums beginnt er ein unbezahltes Praktikum an der Augenabteilung der Wiener Poliklinik – einer wohltätigen Lehranstalt, in der vor allem Arbeiter*innen und Bedürftige unentgeltlich behandelt werden. Die Ophthalmologie ist das Fachgebiet, auf das Adler sich im letzten Abschnitt seines Studiums spezialisiert hat. Nach seiner Promotion bleibt ihm als ungarischer Staatsbürger eine reguläre Anstellung am Wiener Allgemeinen Krankenhaus verwehrt. So erscheint die Eröffnung einer eigenen Praxis als die einzig realistische Möglichkeit.
Nach seiner Heirat kann Adler 1898 eine Ordination in der Czerningasse 7 in der Leopoldstadt eröffnen. In unmittelbarer Nähe zum Prater behandelt er ein breites Spektrum an Patient*innen: Bewohner*innen der vornehmen Praterstraße ebenso wie Zirkusleute, Arbeiter*innen und Sexarbeiterinnen.
Die Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen der Arbeiter*innen bewegt ihn bald zur Veröffentlichung seiner ersten sozialmedizinischen Schrift: dem „Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe“, das auf Missstände in einem Berufsstand aufmerksam macht, der unter prekären hygienischen Bedingungen arbeitet und durch das Gewerkschaftsverbot strukturell benachteiligt ist. Weitere Beiträge folgen in der Arbeiter-Zeitung, veröffentlicht unter dem Pseudonym „Aladin“. Bereits hier zeigt sich Adlers Überzeugung, dass Gesundheit immer auch eine Frage sozialer Gerechtigkeit ist.
Heirat und Familiengründung
Alfred Adler begegnet in Raissa Timofejewna Epstein vermutlich seiner ersten großen und lebenslangen Liebe. Da Frauen in Russland das Hochschulstudium untersagt ist, nimmt Raissa ihr Studium der Biologie in Wien auf, ohne es jedoch abzuschließen. Ihre Beziehung ist von großer Leidenschaft geprägt und führt 1897 zur Eheschließung. Dennoch sorgen kulturelle Differenzen sowie die traditionelle Aufteilung von Haus- und Sorgearbeit – im Spannungsfeld mit dem beruflichen und politischen Engagement beider – immer wieder für Konflikte zwischen der kommunistisch engagierten Feministin und dem sozialistisch orientierten Adler. Aus der Ehe mit Raissa Timofejewna Epstein gehen vier Kinder hervor:
Die älteste Tochter, Valentine („Dina“, *1898), emigriert als kommunistische Aktivistin in die Sowjetunion. Dort wird sie Opfer des stalinistischen Terrors und stirbt 1942 nach fünf Jahren Haft unter tragischen, bis heute nicht vollständig geklärten Umständen. Alfred Adler stirbt, ohne von ihrem Schicksal zu erfahren.
Alexandra („Ali“, *1901) wird Psychiaterin und spielt eine zentrale Rolle bei der Weiterentwicklung und Institutionalisierung der Individualpsychologie. Sie leitet die „Alfred Adler Mental Hygienic Clinic“ in New York, die psychisch belasteten Menschen psychiatrische Hilfe zu sehr niedrigen Kosten bietet. Später übernimmt sie die Präsidentschaft der „Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie“.
Kurt (*1905) studiert zunächst Physik in Wien, emigriert in die USA und schließt dort ein Medizinstudium ab. Als Psychiater und Individualpsychologe engagiert auch er sich intensiv für das geistige Erbe seines Vaters. Gemeinsam mit seiner Frau Freyda wird er Vater von Margot, Adlers einziger Enkelin.
Die jüngste Tochter, Cornelia („Nelly“, *1909), wird Schauspielerin.
Psychoanalyse und Individualpsychologie
Einige Jahre ärztlicher Tätigkeit wecken in Adler zunehmend das Interesse an psychologischen Fragen. In der Erstbesetzung von Sigmund Freuds Mittwoch-Gesellschaft ist er ein engagierter Denker und diskussionsfreudiger Teilnehmer. Früh setzt er sich mit gesellschaftlich vermittelten Rollenbildern auseinander und erkennt die Konstruktion von Geschlecht als Ausdruck sozialer Machtverhältnisse.
Adler beginnt, eigene theoretische Konzepte zu entwickeln – etwa zur Organminderwertigkeit und zur kompensatorischen Dynamik im psychischen Leben. Auch dem Aggressionstrieb misst er eine zentrale Rolle zu und stellt zunehmend die von Freud betonte Bedeutung der Sexualität bei der Entstehung von Neurosen infrage. Freud betrachtet diese Abweichungen als Verrat an den Grundannahmen der Psychoanalyse; die Spannungen eskalieren.
1911 kommt es zum endgültigen Bruch. Gemeinsam mit Gleichgesinnten gründet Adler den „Verein für freie psychoanalytische Forschung“, der 1913 in „Verein für Individualpsychologie“ umbenannt wird.
Kurz darauf tritt Österreich in den Ersten Weltkrieg ein. 1916 wird Adler als Arzt nach Krakau eingezogen. Tief erschüttert kehrt er als überzeugter Pazifist nach Kriegsende nach Wien zurück. Erst in der Nachkriegszeit kann die Individualpsychologie im Kontext des „Roten Wien“ Fuß fassen und sich zu einer bedeutenden Bewegung entwickeln.
Pädagogik und Erziehungsberatung
Die Nachkriegszeit trifft besonders die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft hart. Adlers Patient*innen leiden unter Hygienemängeln, Unterernährung, daraus resultierenden körperlichen Beschwerden sowie den psychischen Folgen sogenannter „Schwarzer Pädagogik“. Bereits 1904 richtet Adler seinen Fokus auf Minderwertigkeitsgefühle, Kompensationsversuche und die Bedeutung der Geschwisterfolge bei Kindern. Sein von bewusstem Optimismus getragenes Programm lautet: Erziehung als Prävention von Neurosen – mit Zugewandtheit und Aufklärung zur Selbstermutigung! Aus tiefster Überzeugung begegnet Adler jedem Kind mit Interesse, Humor und Geduld auf Augenhöhe und lehnt körperliche Strafen als Gewalt strikt ab.
Um 1919 hält er öffentlich zugängliche Vorträge an den Wiener Volkshochschulen, etwa in Ottakring, in offenem Format mit Diskussionen und zahlreichen Publikumsfragen. In dieser Zeit entstehen die ersten Wiener Erziehungsberatungsstellen, die als Vorläufer der späteren Child Guidance Clinics gelten. Die professionellen Teams setzen sich aus Lehrer*innen, Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen sowie Psychotherapeut*innen zusammen.
Die blühende Phase des „Roten Wiens“ mit seinem sozialen Wohnbau und dem Ausbau der Gesundheitsfürsorge eröffnet zudem die Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Wiener Kinderfreunden. Gemeinsam werden Sommercamps organisiert, die kreativ gestaltet und teilweise sogar von den Kindern selbst organisiert werden. Darüber hinaus knüpft Adler internationale Kontakte zu Fachkolleg*innen in Deutschland.
Internationale Vortragstätigkeit und Exil
Ab 1926 reist Adler auch international und findet trotz seines ausgeprägten Wiener Akzents großen Zuspruch. Er gilt als selbstbewusster Redner mit warmer Stimme, der sowohl vor großen Publikumsmengen als auch im kleinen Kreis ebenso persönlich wie überzeugend spricht. Besonders in Amerika stößt er auf einen fruchtbaren Diskurs der Selbstverwirklichung und gewinnt rasch an Popularität. Dort wird er künftig wissenschaftlich tätig sein und gut besuchte Praktika sowie Vorlesungen anbieten. Trotz seines unermüdlichen Arbeitseifers gönnt sich Adler gelegentlich auch eine Auszeit – etwa für eine Komödie von Charlie Chaplin im Kino.
1930 erhält Adler als 60-Jähriger die Ehrung als „Bürger der Stadt Wien“. In den folgenden Jahren drängt Adler angesichts des zunehmenden Austrofaschismus immer stärker auf die Auswanderung seiner Familie. 1935 erfolgt schließlich die endgültige Emigration in die USA – ohne Valentine, die bereits in der Sowjetunion lebt, wo sie 1942 unter tragischen Umständen stirbt. Zu ihr war kein Kontakt mehr möglich. Die Villa in Salmannsdorf und die Wohnung in der Dominikanerbastei werden verkauft.
In dieser Zeit erleidet Adler seine erste ernsthafte Erkrankung im Erwachsenenalter: Ein Karbunkel am Nacken führt zu einem zeitweise kritischen Zustand, der einen vierwöchigen Aufenthalt in der Klinik der Columbia University erfordert.
Gemeinschaftsarbeit bis zuletzt
Adler befindet sich bereits seit einem Monat auf Vortragsreise – von Frankreich über die Benelux-Staaten bis nach Schottland. In Aberdeen hält er einen Vortrag über Kinderpsychologie und die individualpsychologische Haltung zur Erziehung. Vor allem junge Lehrer*innen und Mediziner*innen im Publikum zeigen sich inspiriert, während ältere Zuhörer*innen sich eine stärkere wissenschaftliche Fundierung der Ausführungen wünschen.
Am 28. Mai 1937 bricht Adler, bis dahin gesundheitlich wohlauf, während eines morgendlichen Spaziergangs plötzlich zusammen. Ein Zeuge will noch gehört haben, wie er den Namen seines Sohnes Kurt aussprach. Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt Adler im Alter von 67 Jahren an einem Herzinfarkt. Raissa Adler und alle Kinder – mit Ausnahme von Valentine – reisen an, um gemeinsam mit zahlreichen anderen ihre Erschütterung und Trauer über den viel zu frühen Verlust zu teilen. Am 2. Juni findet die Feuerbestattung in der King’s College Chapel statt. Adlers Asche verbleibt im Warriston Crematorium in Edinburgh.
2007 macht sich eine engagierte Studiengruppe Wiener Individualpsycholog*innen auf die Suche nach der zwischenzeitlich verschollenen Urne – mit Erfolg. Ihr beharrlicher Einsatz führt 2011 zur Überführung der Urne nach Wien und zur Errichtung einer Gedenkstätte in Form eines Ehrengrabs am Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 33G, Nr. 43).
Autorin: Anica Popović, BA BA
Sozialarbeiterin, Individualpsychologin und Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision
Quellenangaben:
Hoffman, E. (1997): Alfred Adler. Ein Leben für die Individualpsychologie. Reinhardt.
Kluy, A. (2019): Alfred Adler: die Vermessung der menschlichen Psyche: Biographie. Deutsche Verlags-Anstalt.
Schiferer, H. R. et al. (1995): Alfred Adler. Eine Bildbiographie. Reinhardt.


